Kataloge und Katalogtexte

"Worin verwandelt sich der Rest der Welt"

Dr. Gudrun Pamme-Vogelsang, Köln

Erschienen in: Manfred Gipper: Arbeiten 2005-2009.
Verlag Zum Kleinen Markgräflerhof, Basel 2010, ISBN 978-3-9523387-1-1. Download als PDF hier.

Arbeiten 2005-2009
Manfred Gipper: Arbeiten 2005-2009. Basel 2010

"In Nichts" lautet die geschriebene Antwort auf einem niederländischen Blumenstillleben des 17. Jahrhunderts. (1) Dem Motivkreis der Vergänglichkeit trotzt die Malerei seit ihren Anfängen, wobei die Sinnbilder, Ausdrucksformen und Bildaussagen einem steten Wandel unterliegen. Die Gemälde und Collagen von Manfred Gipper stehen in dieser Tradition und setzen zugleich neue Maßstäbe.
Manfred Gipper hat an der Akademie in Münster studiert und war dort Meisterschüler bei Hermann-Josef Kuhna. Daher überrascht es nicht, dass Gipper sein eigenes Werk aus der abstrakten Farbmalerei ent­wickelte. Doch suchte Gipper bereits in seinen frühen "Landschaften", der Abstraktion Gegenständliches herauszuschälen. Nach einer längeren Phase des Suchens und Experimentierens bewährte sich neben Gippers Liebe zur Farbmalerei sein großes Interesse an der Architektur. Ein Interesse, das sich aber nicht in Stil- und Formüberlegungen verliert, sondern dem der analysierende und zeitkritische Blick des Historikers zur Seite gestellt ist. In beiden Fähigkeiten hat Manfred Gipper sich während seiner Tätigkeit an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin und auch während seines frühen Studiums der Geschichte in Münster umfassend geübt und ausgebildet.
Die im Jahr 2000 entstandene Bildserie "Casa Europa" darf als erste Frucht dieser intensiven Auseinandersetzung Manfred Gippers mit den Grundfragen der Malerei angesehen werden. Die stark farbigen Leinwandbilder zeigen Häuser und Stadträume in nahezu hyperrealistischer Manier: Menschenleer erinnern sie an die melancholische Lyrik des amerikanischen Malers Edward Hopper.
In einem bemerkenswerten Entwicklungsschritt erweiterte Gipper in den nachfolgenden Jahren diese traumwandlerischen Weltenbilder mit expressiven und abstrakten Farbflächen. Dabei verzichtete er auf jede erzählerische Geste und verließ alle Gesetze der perspektivischen Motivanordnung. Der Raum wird ganz flach und zur rhythmisch bewegten Farbfläche, in denen sich die Architekturen, Maschinenteile und andere Gegenstände in absurden Konstellationen begegnen.
In diesen Kontext gehört unbedingt die von Gipper eingesetzte Collage- und Assemblagetechnik, die er 2004 für sich entdeckt hat. So frei und selbstbewusst, wie er in der Malerei mit der Abstraktion und der Gegenständlichkeit spielt, so selbstverständlich geht er in seinen Collagen zu Werke. Auch in diesen Arbeiten ist die Farbmalerei, der er ausgeschnittene Bildmotive auflegt, von großer Bedeutung. Einigen Bildern fügt er Originalteile bei, die er manchmal malerisch noch einmal so überarbeitet, dass diese in ihrer Materialität – z. B. als Zifferblatt in der Arbeit "Seite 50" (Collage, 2009, 32 x 24 cm, Sammlung des Künstlers) oder als Tapete in der Collage "Reifen" (2008, 23 x 30,5 cm, Privatsammlung) kaum noch wahrnehmbar sind. In dieser künstlerischen Geste wird die Intention des Malers deutlich: Manfred Gipper will die Bildfläche als Erscheinungsort konstituieren und das 'Bild' als antwortendes Gegenbild unserer Seherfahrung verstehen.
Die Arbeiten von Manfred Gipper zeigen eine äußerst spannende und artifizielle Auseinandersetzung mit den Widersprüchlichkeiten der Malerei, deren Potenziale, wie z. B. Zweidimensionalität und Dreidimensionalität, Raum und Fläche, Leere und Dichte, er mit großer Souveränität und Leichtigkeit gegeneinander ausspielt.
Gippers Thema, an dem er diese Grundfragen verhandelt, kreist um Architektur, Zeit und Vergänglichkeit, wobei die 50er Jahre einen besonderen Schwerpunkt bilden. Dabei lässt sich der Maler gerne auf die Besonderheiten und die spezifische Architektur der Orte ein, an denen er sich aufhält. Während seines Basler Aufenthaltes im Jahr 2008 waren es die Schweizer ­Uhren. In Köln ist es die Nachkriegsarchitektur von Wilhelm Riphahn (1889 - 1963), der Gipper in 2009 eine ganze Werkgruppe gewidmet hat.
Die Auseinandersetzung Gippers mit den Bauten Wilhelm Riphahns, wie z. B. dem Gebäude "Die Brücke" sowie den Wohn- und Geschäftszeilen an der Hahnenstraße, dem Opernhaus und der "Bastei", ist keineswegs historisierend zu verstehen, noch will der Künstler die Architektur in ihrer Zeit illustrieren. Gipper verklärt die 50er Jahre nicht, sondern er verweist immer auch auf die Gegenwart. Dieser Verweis kann sich im Titel, wie z. B. im Gemälde "Neustart" (2009, Acryl auf Leinwand, 80 x 100 cm, Sammlung des Künstlers), verbergen oder ist deutlich im Bild selbst zu finden, wie in der Collage "Willkommen" (2009, 23,5 x 31 cm, Sammlung des Künstlers), der Gipper ein historisches und ein modernes Zifferblatt einfügt. Nicht zuletzt sind es aktuelle Fotos, die der Künstler bei seinen Stadtspaziergängen macht und als Vorlage verwendet.
Die intuitive Vorgehensweise des Künstlers steht in gewisser Weise im Widerspruch zu den klar gesetzten Bildgegenständen. Hierzu gehören neben den Bauten die immer wieder zu entdeckenden Maschinenteile. Motive, die Gipper beispielsweise Firmenkatalogen und Zeitschriften der 50er Jahre entnimmt, wie z. B. Bauteile der Kanalisation oder Bügeleisen mit den Produktnamen Dampf, Libelle und Wal. "Libelle" (2009, Acryl auf Leinwand, 150 x 180 cm, Sammlung des Künstlers) lautet denn auch der Titel eines seiner Gemälde, in dem er die Architektur der "Bastei" mit den oben genannten Bügeleisenmodellen konfrontiert.
Gippers Arbeiten zeigen den künstlerischen Prozess, seine Ideen und Verwerfungen, hin zu einem unumstößlichen Abschluss. Er schichtet vielfältige Bildebenen, die sich gegenseitig durchdringen, auf und konfrontiert in seinen schwebenden traumwandlerischen Szenerien die Vergangenheit mit dem Versprechen auf eine zu gestaltende Zukunft.
Dabei wecken seine Bildkompositionen mit den Utopien und Relikten der 'Wirtschaftswunderzeit' Assoziationen zu den Vanitas-Stillleben des Barocks. Deren Themenkreis dreht sich gleichermaßen um Wohlstand wie um Nichtigkeit und Endlichkeit des Daseins, inklusive der Ermahnung daran, diese Tatsache in der Fülle und des zu gestaltenden Lebens wahrzunehmen. Um all dies ansichtig zu machen, bediente man sich so eindeutiger Symbole wie z. B. der Uhr, des Totenkopfs, verwelkender Blumen oder eines Rads als Zeichen des ablaufenden Lebens. Um den gemächlich dynamischen Lauf der Zeit darzustellen, arbeiteten die Künstler des Barocks mit den malerisch technischen Möglichkeiten von Licht und Schatten sowie Spiegelungen. Gleichsam als flüchtiger Schein stehen diese für die Flüchtigkeit des Lebens. Das Motiv des Bildes im Bild gehört ebenfalls in das Repertoire der barocken Stillleben, um an die Vergänglichkeit des Lebens zu erinnern, denn im Bild lässt sich das Abgebildete nicht bewahren. Uhren und Räder, Schatten und Spiegelungen, Bilder im Bild, all dies gilt es auch in Gippers Arbeiten zu entdecken.
Ein wesentliches Element im Werk von Manfred Gipper ist der Einsatz der sehr spezifischen Farben aus der Konsumgüterwelt der 50er Jahre, in welche er den Aspekt der Zeit transformiert. Die aus der Farbfläche heraus 'tropfende Zeit' wird in den sich verselbstständigenden Farbverläufen gegenwärtig. "Worin verwandelt sich der Rest der Welt": in Farbe, scheint eine der Antworten des Künstlers zu sein.
Das 'Stillleben' im Werk von Manfred Gipper gewinnt als Verfremdetes neue Symbolkraft, weil sich die Gegenwart nicht an der Geschichte entäußert, sondern weil sie sich die Geschichte heranzieht.

 

(1) Zitiert nach Konrad Renger, Vanitas-Stillleben in: Das Flämische Stillleben 1550-1680, Ausstellungskatalog Essen, 2002, S. 143, Anm. 33

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