Kataloge und Katalogtexte

Swiss made und doch keine Zeiger auf Zeit
Manfred Gipper in Basel

Dr. Rose Marie Schulz-Rehberg, Basel

Erschienen in: Manfred Gipper: Arbeiten 2005-2009.
Verlag Zum Kleinen Markgräflerhof, Basel 2010, ISBN 978-3-9523387-1-1. Download als PDF hier.

Arbeiten 2005-2009
Manfred Gipper: Arbeiten 2005-2009. Basel 2010

Das Jahr 2008 bedeutete einen neuen Abschnitt in Manfred Gippers Leben. Für acht Monate war er Stipendiat der Stiftung Bartels Fondation und zog nach Basel. Der Tod seiner Mutter zu Beginn dieser Periode berührte ihn zutiefst und führte ihm seine eigene Sterblichkeit vor Augen. Das Moment der Zeit wurde ein neues Thema seines Schaffens.
In zwei sehr gegensätzlichen Sinnbildern des Verfließens der Zeit trat ihm die Ambivalenz dieses Begriffs vor Augen: durch die Uhren, die ihm hier in vermehrtem Maße auffielen, und durch den Rhein, den er jederzeit von seinem Fenster aus überblicken konnte. Die Vielzahl der Uhren wurde für ihn zu einem geradezu überwältigenden Sinnbild der Vergänglichkeit, der Endlichkeit alles sinnlich Wahrnehmbaren, des Todes; sie sind "Zeit-Messer". Stanislaw Jerzy Lec formulierte zu diesem Aspekt: "Die Uhr schlägt. Alle."
Demgegenüber erlebte Gipper im stetig dahinziehenden Rheinstrom das Symbol der immerwährenden Wandlung, der Verflüssigung des Festen, Erstarrten, des unendlichen Lebensprozesses, und damit den positiven Pol der Vergänglichkeit. Ganz deutlich haben sich diese beiden Gegensätzlichkeiten in seinen Arbeiten dieser Monate ihren Platz verschafft.
Einerseits ist Gipper fasziniert von der Präzision und Ästhetik - vorwiegend etwas antiquierter - technischer Geräte, Apparate, Maschinen, diesen Ausgeburten des naturwissenschaftlich-technischen Denkens, das sich Hand in Hand mit der Etablierung einer exakten Zeitmessung entwickelt und die Kontrolle über die sinnliche Welt durch Maß, Zahl und Gewicht erlangt hat. Mit dieser Einstellung konnte die unberechenbare Welt des Geistigen in ihre Schranken gewiesen werden. Diderots Kommentar zu dieser Entwicklung war: "Die Welt ist kein Gott mehr. Sie ist eine Maschine mit ihren Rädern, Seilen, Rollen, Federn und Gewichten."
Als kompositorischer Alchimist versetzt Gipper diese technischen Elemente jedoch auf fast spielerische Weise in ungewohnte Zusammenhänge. Auf einen perspektivisch durchkonstruierten Bildaufbau verzichtend raubt er ihnen die Schwerkraft und umgibt sie mit ausdrucksstarken und dynamischen Farbgestaltungen und -gesten. Dadurch erhalten sie eine neue Realität innerhalb des Bildes: Gleichberechtigt erscheint Gegenstandsloses und Abbildhaftes nebeneinander. Ganz klar setzt Gipper so ein Fragezeichen im Hinblick auf den alleinigen Deutungsanspruch für die Realität von Seiten der Naturwissenschaft.
Seine Methode, Farbe in dicken Schichten aufzutragen, sie zu modellieren, wieder abzukratzen, so dass sich geradezu Reliefs herausbilden, verdeutlicht sinnfällig das Prozesshafte der Entstehung dieser Arbeiten. Dabei wird der Farbmaterie, die gelegentlich in Streifen heruntertropft, auch Eigendynamik erlaubt; das Fließen des Lebensprozesses ist so bis in die Maltechnik hinein im Bild umgesetzt.
Konsequent nutzt der Künstler auch die Technik der Collage, wo er Schicht auf Schicht legt, Ausrisse aus alten Zeitschriften einfügt, sie wieder übermalend, Objekte integriert. Mit dieser Vorgehensweise wird der Prozess der Geschichte, die ja nichts anderes ist als die vielen übereinander geschichteten Spuren der Zeit, in Gippers Arbeiten gleichsam verdichtet nachvollzogen.
Diese Werke verstören auf den ersten Blick, denn sie durchbrechen die gewohnte Wahrnehmung eines scheinbar einheitlichen Bildraums. In einer irrealen Räumlichkeit machen hier fotografisch genau festgehaltene Objekte und expressive Farbigkeit in teilweise ganz neuartigen Farbzusammenstellungen die Totalität des Bildganzen aus. In ganz ähnlicher Weise geht Gerhard Richter vor, wenn er Fotos mit fast fingerdicker Farbe teilübermalt.
Wir werden auf diese Weise mit einer Grundfrage der Bildkunst konfrontiert, welche Magritte unter das gemalte Abbild einer Pfeife schreiben ließ: "Ceci n’est pas une pipe". Ein Bild ist immer nur Bildträger und Farbe und niemals das darauf Dargestellte, mag dieses noch so genau wiedergegeben worden sein. Die Koexistenz von Gegenständlichkeit und Farbgebärde auf Gippers Bildern hilft einem, sich dieser Tatsache bewusst zu werden, indem er einem den Illusionismus der Dreidimensionalität vor Augen führt. Damit verweist der Künstler nicht nur auf das Fiktive der abbildenden Malerei, sondern auf die Irrealität aller sinnlichen Wahrnehmungen überhaupt, die Maja. Das meint nichts anderes als: Alles, was wir wahrnehmen, spielt sich innerhalb unserer selbst ab.
Wie die Realität der sinnlichen Wahrnehmung durch Gippers Bildwelten in Frage gestellt wird, präsentiert er uns auch die Zeit in der Form der zeigerlosen Zifferblätter vom Flohmarkt oder des Phantoms einer vorüberhuschenden Uhr hier als Fiktion, als zutiefst subjektives Element. Auch wenn er darüber hinausgeht, steht Gipper damit in der Tradition der Dadaisten, ja Surrealisten, denen das Zerschlagen aller Traditionen - so auch des Bildbegriffs - eine Herzensangelegenheit war. Nicht umsonst paraphrasiert Gipper als Motto für diese Werkgruppe den Hausspruch von Hannah Höch, der Schöpferin hochkomplexer Fotomontagen und -collagen, die dem dadaistischen Kreis um Hans Arp und Kurt Schwitters eng verbunden war: "Immer mehr Zeit - und doch keine Zeiger auf Zeit". Allerdings weist Gipper den Intellektualismus dieses Denkansatzes durch die Eigenmacht seiner Farbgestaltungen und ihrer Lebensbejahung deutlich in seine historischen Schranken.

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